Öffentliche Ringvorlesung 2021

Die schnelle Verbreitung des Internet in der Gesellschaft hat einen weitreichenden zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungsprozess befördert. Zunächst nur eine technische Infrastruktur, ändert das Internet heute fundamental die Art und Weise, wie Menschen kommunizieren und sich informieren, wie ihre Arbeitswelt aussieht und sie ihre Freizeit gestalten, wie politische Prozesse funktionieren, Meinungen entstehen und wie Werte geschaffen und Wissen vermittelt wird. Damit hat das Internet tiefgreifende Auswirkungen auf die zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes und seine Position im globalen Wettbewerb.

Dieser Wandel stellt auch die deutsche Gesellschaft vor große Herausforderungen. Auch hier trifft der Umbruchprozess auf eine Gesellschaft mit gewachsenen Sozialbeziehungen, auf ein international erfolgreiches wirtschaftliches System und auf Menschen, die in ihrer großen Mehrheit diese Gesellschaft mit viel Engagement mittragen und weiterentwickeln wollen. Der mit dem Internet und der Digitalisierung verbundene Umbruchprozess findet nicht auf der "grünen Wiese" statt. Er muss von einer gewachsenen Gesellschaft aktiv gestaltet werden. Um den erreichten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, ist es gerade in Deutschland und anderen Industriestaaten erforderlich, die sich abzeichnenden Veränderungsprozesse aufmerksam durch politische Maßnahmen zu begleiten, um ihre gesellschaftlichen und ökonomischen Chancen nutzen und Verwerfungen frühzeitig entgegensteuern zu können. Die technologischen Veränderungen und Möglichkeiten treffen die Gesellschaft mit einer derartigen Wucht, dass sogar die entscheidende Frage, wie die Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich aussehen und funktionieren soll, nur zögerlich gestellt wird und das enorme gestalterische Potential ebenfalls nur sehr zögerlich debattiert und realisiert wird. Wir wollen dazu beitragen, die Gesellschaft zu ermächtigen, auch in Zeiten der Digitalisierung ihr Schicksal aktiv selbst zu gestalten und nicht passiv Opfer unverstandener oder nicht erkannter Entwicklungen zu sein.

In Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation veranstaltet die Fakultät für Informatik der Technischen Universität München deswegen eine öffentliche Ringvorlesung zum Thema Digitalisierung. Betrachtet werden soll das Thema aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen, um so ein übergreifendes und interdisziplinäres Verständnis der Materie zu erzielen.

  1. Prof. Dr. Helmut Schönenberger, UnternehmerTUM
    The next digital startup success story?! (19.04.)
    Die Digitalisierung bietet Gründer*innen die Chance, schnell disruptive Unternehmen aufzubauen, wie Celonis, Flixbus, Konux, Navvis, Personio und Tado. Im Vortrag wird am Beispiel des Münchner Startup Ecosystems aufgezeigt, welche Möglichkeiten, Ressourcen und Netzwerke den jungen Unternehmer*innen und Innovator*innen heute zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird reflektiert, in welcher Wettbewerbssituation Münchner Startups zu Gründungsteams aus anderen weltweit führenden High-Tech-Regionen stehen.
     
  2. Prof. Dr. Doris Fischer, Universität Würzburg (26.04.)
    Chinas Sozialkreditsystem - Eine Betrachtung aus ökonomischer Perspektive
    Seit einigen Jahren arbeitet die chinesische Regierung daran, die chinesische Gesellschaft mit einem Sozialkreditsystem zu überziehen, um damit regelkonformes Verhalten von Individuen und Unternehmen zu bewirken. Meist wird dieses System vor allem als Instrument der politischen Kontrolle wahrgenommen. Dabei wird die Funktion des Systems für die chinesische Wirtschaftsordnung und -entwicklung in der Regel übersehen. Der Vortrag widmet sich diesem Aspekt und zieht dabei Vergleiche zu anderen Wirtschaftsordnungen.
     
  3. Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida Rümelin, Direktor bidt und Professor emeritus LMU
    Digitaler Humanismus (03.05.)
    Was ist Digitaler Humanismus? Welchen Status hat Künstliche Intelligenz? Welche ethischen Implikationen ergeben sich?
     
  4. Dr. Markus Anding, excubate GmbH
    Corporate Ventures: Digitale Ausgründungen als Chance für bestehende Unternehmen (10.05.)
    Der technologische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfolg von Startups wird nicht zuletzt durch immer mehr Beispiele aus Europa – wir haben am 19.4. schon von Celonis, Flixbus oder Personio gehört – eindrucksvoll deutlich. Bestehende Unternehmen, insbesondere der Deutsche Mittelstand, stehen jedoch vermehrt erstaunt daneben und sehen ihre Geschäftsmodelle bedroht. So bedrohen bspw. digitale Kapazitätsmarktplätze den Maschinenabsatz deutscher Maschinenbauer, indem sie zu höherer Auslastung der bereits im Markt befindlichen Maschinen führen. Eigene Startups zu gründen, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, ist dabei naheliegend und wird zunehmend auch praktiziert. Gleichwohl tun sich bestehende, auf Optimierung ausgelegte Organisationen sehr schwer damit, „wie Startups“ zu agieren und entsprechend gering ist die Erfolgsquote von Corporate Startups. Wir wollen darauf eingehen, inwiefern Corporate Startups sich von „Greenfield“ Startups unterscheiden, was einfacher und schwieriger in der Umsetzung ist und wie bestehende Unternehmen damit erfolgreich sein können.
     
  5. Prof. Dr. Ute Schmid, Universität Bamberg
    Hybrid artificial intelligence -- Integrating learning and reasoning to avoid the data engineering bottleneck (17.05.)
    Currently, artificial intelligence (AI) is often used synonymous with data-intensive deep learning. Some decades ago, knowledge-based approaches were dominant and the nearly exclusive focus on methods dealing with explicit knowledge caused an AI winter. Researchers had to acknowledge that there is a knowledge engineering bottleneck because a significant part of human knowledge is implicit, that is, not accesible to introspection and not verbalizable. Today, on the other hand, machine learning is sometimes applied even if explicit knowledge is available. However, a growing number of researchers and practicioners recognize that an exclusive focus on machine learning is neither plausible nor practical. In specialized domains, such as quality control in industrial manufactoring or medical diagnosis, providing correctly labelled data in an amount necessary to train deep networks is either very expensive or even impossible. To avoid a new AI winter due to the data engineering bottleneck, it is proposed to combine approaches which allow explicit reasoning with knowledge and machine learning. In the talk, I will present the basic ideas of both knowledge-based AI and machine learnig and present examples to illustrate how both can be combined into hybrid systems, reconciling the explicit and the implicit perspective on intelligence.
     
  6. Prof. Dr. Kathrin Möslein, FAU
    Understanding Innovation Ecosystems (31.05.)
    Jeder spricht heute von Innovations-Ökosystemen, doch was verbirgt sich dahinter? Der Vortrag diskutiert Ökosysteme als Koordinationsformen für Innovation und Wertschöpfung, fragt nach der Rolle von Plattformen und der Bedeutung des Digitalen und Realen für die Funktionsweise von Ökosystemen. Egal, ob wir vom Münchner Startup-Ökosystem, dem Fränkischen Innovations-Ökosystem, dem Chinesischen KI-Ökosystem oder dem Dänischen Drohnen-Ökosystem sprechen, einige Grundregeln der Mobilisierung, Orchestrierung und Wertschöpfung gelten übergreifend. Das macht sie spannend und zeigt die Potentiale, aber auch Grenzen des Konzepts.
     
  7. Prof. Daniel Weitzner, Director of the MIT Internet Policy Research Initiative
    Designing Governable Computing Systems (07.06.)
    Why is our society having such a hard time governing the new digital computing infrastructure? This talk presents new research in cybersecurity and privacy, offering a broad approach by which computer science can contribute systems that are better integrated with society’s public policy priorities. Our new approach to cybersecurity will provide previously unattainable cyber risk pricing metrics to guide private investment decisions, make cyber insurance markets more efficient, and shape cybersecurity regulations that are more effective. To address privacy needs, we propose changes to the underlying architecture of relational database systems to enable auditable conformance with state-of-the-art privacy values in laws such as the European Union General Data Protection Directive (GDPR). Taken together, this work suggests we can improve computing governance with new extensions of two key concepts in the theory of computation. First, we describe policy soundness: the property of a computing system that shows it is logically sound with respect to a given legal ruleset. Second, technical completeness: the property of a law or regulation which shows the rules are logically complete with respect to the dynamics of a given computing system. Building these kinds of abstractions into systems and laws can make computing systems more governable and thus more trustworthy.
     
  8. Prof. Matthias Grabmair, TUM
    Search, Read, Argue, and Predict: An Introduction to Artificial Intelligence and Law (14.06.)
    Abstract: The field of Artificial Intelligence and Law studies how legal argumentation can be formalized in order, eventually, to be able to develop systems that assist lawyers in the tasks of researching, drafting and evaluating arguments in a professional setting. To further this goal, researchers have been developing systems, which, to a limited extent, autonomously engage in legal reasoning, and argumentation on closed domains. However, populating such systems with formalized domain knowledge is the main bottleneck preventing them from making real contributions to legal practice. Given the recent advances in natural language processing, the field has begun to apply more sophisticated methods to legal document analysis and to tackle more complex tasks. Meanwhile, the LegalTech community is thriving and companies/startups have also been trying to tap into the legal industry's need to make large-scale document analysis tasks more efficient, and to use predictive analytics for better decision making. This talk will present an overview of the history and state of the art in academic AI&Law, as well as selected examples of developments in the private sector. Aspects in focus are rule- and case-based reasoning, legal text analytics, and the use of predictive models.
     
  9. Prof. Dr. Dr. Robert Krimmer, Tallinn University of Technology
    Estland – Wunderland der digitalen Transformation?! (21.06.)
    Die ehemalige Sowjetrepublik Estland gilt als Wunderland der digitalen Transformation – elektronische Steuererklärung, Internetwahlen, e-Residence, digitaler Datenaustausch nach dem Once-Only-Prinzip – Estland hat es alles und zeigt dem Rest der Welt wie das geht. Doch wie ist das erklärlich, ist das kleine Land von der Größe der Schweiz oder der Niederlande mit nur 1,3 Millionen Einwohner doch recht dünn besiedelt und erst seit knapp 30 Jahren unabhängig. Robert Krimmer gibt einen Einblick in die Hintergründe aber auch die Problemfelder des baltischen digitalen Tigers, wie das Land auch oft gern genannt wird.
     
  10. Prof. Dr. Peter Bräutigam, RA Noerr Partnerschafts GmbH
    Digitalisierung und Recht – ein Wettlauf zwischen Hase und Igel (28.06.)
    Die rasch fortschreitende Digitalisierung fordert das Recht heraus. Steht den Kerntechnologien der Digitalisierung eine rechtliche Regulierung auf Augenhöhe gegenüber? Man denke nur an Plattformen, die mit ihren Netzwerkeffekten nach dem Prinzip „The winner takes it all“ Märkte auf sich konzentrieren. Die in der Praxis immer wichtiger werdende Datenwirtschaft verlangt Antworten auf die brennenden Fragen nach dem Eigentum an Daten und dem Zugang zu diesen. Auch der Einsatz von Künstlicher Intelligenz stellt die Rechtsordnung vor neue Herausforderungen: Wer ist für Fehler der KI verantwortlich – wie sieht die Haftung für KI aus? Und wem gehören von der KI geschaffene Werke? Ja, sollte nicht der KI /dem autonomen Roboter sogar eine eigene Rechtspersönlichkeit zugeschrieben werden?
     
  11. Prof. Dr. Daniel Rückert, TUM (05.07.)
    Artificial Intelligence and the Future of Medicine
    Artificial Intelligence (AI) is changing many fields across science and across our society. In this talk, we will discuss how AI is and will change the field of medicine and healthcare. In particular, we focus on how AI can support the early detection of diseases as well as help with improved diagnosis and personalised therapies. Furthermore, we will discuss how AI solutions can be privacy-preserving while also providing trustworthy and explainable solutions for clinicians. Finally, I will highlight a number of applications in radiology which demonstrate the potential off AI in medicine and healthcare.
     
  12. Dr. Uwe Dumslaff, Capgemini Deutschland
    Digitalisierung in Unternehmen - Gute Erfahrungen und Ernüchterung (12.07.)
    Wie und wo haben sich Unternehmen und Organisationen in den letzten wenigen Jahren digital weiterentwickelt? Das betrifft sowohl die Menschen als auch die jeweilige Unternehmenskultur in allen Bereichen. Wir treffen auch auf Stagnation und versuchen die Ursachen zu verstehen. In der Zusammenfassung finden sich Empfehlungen und Vorschläge aus den Erfahrungen von Unternehmen und Organisationen für digitale Erfolgsfaktoren.